Nachdem ich “Die Falle” von Melanie Raabe gelesen hatte, weigerte ich mich standhaft, den zweiten Roman “Die Wahrheit” zu lesen – einfach, weil ich den Genuss, den mir “Die Falle” bereitet hatte, zum einen nicht zerstören wollte, und zum anderen wollte ich “Die Wahrheit” nicht an “Die Falle” messen. Komplizierter Gedankengang? Ja, könnte man so sagen. In der Zwischenzeit habe ich weitere Bücher gelesen und war nun bereit, mich an das neueste Werk, “Der Schatten”, zu wagen:

Titel: Der Schatten
Autor: Melanie Raabe
ISBN: 978-3-442-75752-7, 416 Seiten
Verlag: Random House

Prophezeiungen in der todesverliebten Stadt

Der eigentliche Kern der Geschichte ist schnell erzählt: Norah Richter, ihres Zeichens Journalistin aus Berlin, zieht nach dem Abbruch ihrer Beziehung nach Wien, um dort neu anzufangen. Es ist Winter und kalt und alles andere als gemütlich. Norah gewöhnt sich nur langsam an ihr neues Leben – ihre Wohnung bleibt lange Zeit kalt und ebenso ungemütlich wie das Wetter, Freunde hat sie nur wenige.

“Am 11. Februar wirst du am Prater einen Mann namens Arthur Grimm töten. Aus freien Stücken. Und mit gutem Grund.”

Ah. Ja. Als ihr eine, zugegeben, charismatische Bettlerin diese mysteriöse Prophezeiung verkündet, ist Norah zunächst mehr verwirrt als beunruhigt. Warum sollte sie jemanden töten, von dem sie bisher noch nie etwas gehört hatte? Ausgerechnet sie? Es ist nur das Datum – der 11. Februar – welches Norah stutzen lässt. Denn an diesem Datum hat sich vor fast zwanzig Jahren ihre beste Freundin Valerie das Leben genommen. Zufall? Bestimmung? Ein Gruß aus dem Jenseits? Norah versucht zunächst, die rätselhafte Botschaft zu vergessen. Dann unterhalten sich jedoch ihre Arbeitskollegen über einen Arthur Grimm und in dem Gebäude ihres Zahnarztes wohnt ein Ingenieur namens Arthur Grimm…

Der Rest… spoilers!

Sprachgewaltig und poetisch

Es sind Sätze wie “Die Einsamkeit waren ohrenbetäubend” oder die Umschreibung der Bettelrufe der Obdachlosen, die die “Lebenden frösteln ließ”, die Melanie Raabes Schreibstil so wunderbar poetisch macht. Man spürt die unerbittliche Kälte des Winters in Wien, sie kriecht durch die Buchseiten und legt eine herrlich düstere Stimmung über die Geschichte und die altehrwürdige Stadt. Norahs Gemütslage – mal bedrückend, mal jubilierend und voller Tatendrang – wird durch diese Magie der Worte greifbar.

“Der Schatten” ist ein unblutiger Thriller – heutzutage fast eine Seltenheit. Melanie Raabe wetzt die Messer durch ihre geschliffene Sprache und baut so eine mitreißende Spannung auf, die keiner bildhaften Grausamkeiten bedarf. Bei ihr reichen die atmosphärischen Beschreibungen eines Straßenzuges, der unerbittlichen Kälte des Winters oder eines Klavierspiels im Hauptbahnhof.

Am Ende ist die Geschichte ein Hauch, wirklich nur ein Hauch, zu lang für meinen Geschmack, aber die Enthüllungen um die Hintergründe der Prophezeiung sind packend und brilliant ausgeklügelt.