Klappentexte können so nichtssagend – oder abschreckend – sein! Im Falle von „Die Falle“ steht dort geschrieben:
Die berühmte Bestsellerautorin Linda Conrads lebt sehr zurückgezogen. Seit elf Jahren hat sie ihr Haus nicht mehr verlassen. Als sie im Fernsehen den Mann zu erkennen glaubt, der vor Jahren ihre Schwester umgebracht hat, versucht sie, ihm eine Falle zu stellen – Köder ist sie selbst.
Unbekannt = lohnt nicht?
Vor meinem geistigen Auge sah ich eine verschrobene alte Frau, die im Schaukelstuhl sitzend auf den Täter bzw den Tod wartet. Das klang alles andere als vielversprechend und, trotz der Empfehlung von Sebastian Fitzek im Frühstücksfernsehen, scheute ich zunächst vor diesem Roman zurück. Die Autorin Melanie Raabe war mir außerdem gänzlich unbekannt. „Die Falle“, so mein (unberechtigtes) Vorurteil, liest man, wenn nichts anderes mehr da ist. Heute gebe ich gerne zu: Das war eine klare Fehleinschätzung.
Wer „Die Falle“ bis jetzt noch nicht gelesen hat, dem sei das Buch wärmstens empfohlen. Jetzt und sofort.
Die Koordinaten:
Titel: Die Falle
Autor: Melanie Raabe
Verlag: btb / Random House
353 Seiten
ISBN: 978-3-442-75491-5
„Die Falle“ ist der erste Roman von Melanie Raabe, die auf ihrer Facebook-Seite verkündet: „Ich schreibe Bücher, Bücher schreiben mich“. Gerne kann es so weitergehen.
Natürlich geht es in dem Buch um den Sachverhalt, den der Klappentext so unaufgeregt und langweilig beschreibt. Eine Bestsellerautorin, die jedoch weder alt noch im Schaukelstuhl sitzt, ist durch den Mord an ihrer Schwester derart traumatisiert, dass sie ihr Haus seit mehr als einer Dekade nicht mehr verlassen hat. Reichtum und Einfluss bereiten ihr jedoch ein recht angenehmes Leben, wie es scheint. Als Linda Conrads, so der Name der Protagonistin, im Fernsehen den vermeintlichen Mörder ihrer Schwester sieht, beschließt sie, ihn selbst zu stellen. Natürlich hätte sie auch einfach zum Hörer greifen und die Polizei anrufen können, aber dann wären uns 352 Seiten Spannung entgangen. Schnell schreibt sie einen Thriller über den Mord an ihrer Schwester – den wir als gebannter Leser auch als Buch-im-Buch mitlesen dürfen – und lädt den Täter, einen Journalisten, zum Interview in ihr Haus ein. Linda Conrads bereitet sich akribisch auf das Interview vor, welches sie führen wird. Tipps und Tricks über Verhörmethoden werden bei Experten eingeholt, das Haus mit versteckten Kameras und Mikrofonen verwanzt.
Quid pro quo
Das Spiel beginnt.
Kennen Sie das Gefühl, wenn Sie ein Buch für einen Moment schlichtweg aus der Hand legen müssen, weil Sie die Spannung nicht mehr ertragen können? So erging es mir beim Lesen. Man spürt förmlich die Angst der Linda Conrads, als der Journalist Victor Lenzen ihr Haus betritt. Panikattacken werden lebendig. Umhergerissen zwischen ihrer Angst und dem Willen, den Täter zu einem Geständnis zu bringen, verfolgt Linda ihren Plan. Das Interview erinnert mit einem herrlichen Prickeln im Nacken an die Gespräche zwischen Clarice Starling und Dr. Lecter. Möge der Überlegene gewinnen, doch heißt gewinnen überlegen sein? Manche Wahrheiten verdienen es, nicht ausgesprochen zu werden. Gefangen in einem Spinnennetz aus Anschuldigungen, Erinnerungen und … Schnittblumen?… wissen bald weder Lindas Conrads noch der Leser, was Einbildung und Wirklichkeit ist.
Wortgewandt und sprachgewaltig
Beeindruckt hat mich neben der pfiffigen, ausgefeilten Geschichte auch die Sprachgewalt der Melanie Raabe. Allein durch die wunderbaren, langen, durchdachten Sätze, an deren Ende nicht selten ein Cliffhänger oder Stich ins (Leser)herz steht, hebt sich „Die Falle“ von der Massenware in den Bücherregalen ab. Längst vergangene Wörter aus einer anderen, sprachlich gehobenen Epoche lassen erschaudern und bewundernd nicken. Schreiben ist auch ein Kunsthandwerk und Melanie Raabe eine Künstlerin ihrer Zunft. Mehr. Mehr. Mehr. Bitte.