Als Teenager hatte ich Stephen Kings „ES“ gelesen und danach hatte ich erst einmal genug von Horror und den Abgründen der menschlichen Seele. Zwischendurch gab ich Bachman eine Chance – nur um zu dem Schluß zu kommen, dass die unbändige Phantasie eines Stephen King nicht für mich geeignet war. Inzwischen – ein bißchen älter und ein bißchen weiser – habe ich mich wieder an ihn herangetraut. Zunächst war „Das Institut“ dran, doch dann erfuhr ich von „Der Anschlag“, was im amerikanischen Original meines Erachtens viel treffender als „11/22/63“ tituliert ist.
Zeitreise à la King
Zu Beginn der 1057 Seiten (oder der zweiunddreißigstündigen ungekürzten Hörbuchfassung, fesselnd erzählt von David Nathan) lernen wir Jake Epping kennen, einen sympathischen Mittdreißiger und Englischlehrer aus Maine. Im Rahmen eines Englischkurses für Erwachsene erfährt Jake von einer ungeheuerlichen Familientragödie, die dem Hausmeister der Schule, dem immer schlurfenden Harry, in Kindertagen widerfahren war. In Al’s Diner, einer Burgerbude, wo die Burger nie teurer werden, sinniert Jake über das Gelesene und über die immerwährende Frage „Was wäre, wenn…?“ Was wäre, wenn man die Vergangenheit verändern könnte? Geschehenes ungeschehen? Dieses fürchterliche Familiendrama verhindern könnte? Was wäre, wenn man gar die Weltgeschichte manipulieren könnte? Das Attentat auf Präsident John F. Kennedy beispielsweise?
Es ist Al, der Besitzer des Diners, der Jake eine ebenso ungeheuerliche wie unfassbare Geschichte auftischt: Das Lokal ist ein Portal ins Jahr 1958, und ein Aufenthalt in der Vergangenheit währt in der Gegenwart nur zwei Minuten. Von Krankheit gezeichnet ist Al nicht mehr in der Lage, in die Vergangenheit zu reisen und überträgt Jake die Aufgabe, dass Attentat auf JFK, das die Welt 1963 erschütterte, zu verhindern. Um zu testen, welche Auswirkungen die Manipulation der Vergangenheit haben könnte, beschließt Jake nach anfänglichem Zögern, die Familientragödie um Hausmeister Harry zu vereiteln und reist in das Jahr 1958.
Die Vergangenheit wehrt sich
So fängt es an, dieses phantastische Meisterwerk um Zeitreise, Geschichte und die ganz große Liebe. Aus Jake Epping wird George Amberson, der mit seinem Wissen von heute versucht, die Vergangenheit im Kleinen und Großen zu verändern. Aus zahlreichen anderen Geschichten und Filmen wissen wir sofort, dass man nicht mit der Zeit spielen sollte, denn die Vergangenheit wehrt sich, bäumt sich auf, um das zu bleiben, was sie ist und war.
Stephen King ist ein großer Erzähler, und er zelebriert Jakes Reise zurück, Tag für Tag, Jahr um Jahr. Es werden die typischen King-Fäden gesponnen, die sich so unglaublich detailliert in das Spinnennetz der Vergangenheit weben, dass es einem zuweilen schier den Atem raubt. Aus vermeintlicher Langatmigkeit wird eine fesselnde Geschichte. Gemeinsam mit Jakes Alter Ego George erleben wir bekannte und unbekannte Geschichte, lernen Figuren kennen, die ans Herz wachsen oder abstoßen. Als schließlich der Tag des Anschlags kommt, 11-23-63, kämpft George unerbittlich gegen die düstere Vergangenheit, die erbarmungslos dagegen hält. Der Showdown in Dallas verändert im Minutentakt sein Gesicht, und man sollte nie vergessen, wer der Autor dieses Buches ist…
„Der Anschlag“ lässt sich nur schwer in ein Genre einordnen. Die Zeitreisethematik öffnet die Science-Fiction-Schublade, aber es ist ebenso ein Thriller wie eine große Liebesgeschichte, alles gewürzt mit einer Prise, einem Hauch von Horror.
Hier die Details:
Titel: Der Anschlag (Original: 11-23-63)
Autor: Stephen King
Website: https://stephenking.com
Verlag: Random House
ISBN: 978-3-453-43716-6, 1057 Seiten