Wow! Meines Erachtens gibt es nichts Schöneres als ein Buch, dass man nicht weglegen kann. In meinem Fall habe ich der ungekürzten Lesung gelauscht – beim Autofahren, wie immer – und konnte es gar nicht abwarten, wieder in den Wagen zu steigen, um weiter zu hören. Das „Wow“ entfuhr mir dann, als aus den Lautsprecherboxen nur noch leises Rauschen zu hören war, und die Geschichte ihr leises und dennoch spektakuläres Ende gefunden hatte.
Doch, first things first, hier ein paar Stammdaten zu dem Werke:
Titel: The Girl on the Train
Autor: Paula Hawkins (Paula Hakwins ihre Website)
ISBN: 978-3-7645-0522-6
448 Seiten oder 10 Std. 40 Min ungekürzte Lesung
Gelesen von Britta Steffenhagen, Rike Schmid, Christiane Marx
Um genau zu sein, bin ich durch eine Empfehlung von Sebastian Fitzek im Frühstücksfernsehen auf dieses Buch aufmerksam geworden. (Danke, Herr Fitzek!). Auch wenn diese Empfehlung vom Meister der Psychothriller selbst kommt, so kann ich gleich Entwarnung geben: The Girl on the Train ist weder grausam, noch merkwürdig oder sonst irgendwie … fitzek. Es ist ein leiser Thriller, der als Bummelzug beginnt und dann in bester Starlight Express-Manier über die Ziellinie jagt.
Der Buchuntertitel „Du kennst sie nicht, aber sie kennt dich“ ist vielleicht irreführend. Es geht hier nicht um eine Stalkerin, jedenfalls nicht so richtig. Rachel, unsere Protagonistin, erscheint zwar überall und nirgends, aber sie ist nicht die typische Stalkerin, die Menschen terrorisiert oder verfolgt.
Rachel ist richtig unsympathisch oder, besser gesagt, eine von den Personen, denen man auf der Straße oder im Zug begegnet und sich schnell wegdreht, mitleidend, vielleicht sogar verachtend, manchmal auch beschämt. Rachel ruft bei ihren Mitmenschen unterschiedliche Gefühlsregungen hervor. Arbeitslos, geschieden und mit einem ordentlichen Alkoholproblem wird sie uns vorgestellt. Ungepflegt, unansehnlich. Man möchte wirklich das Abteil wechseln, um nicht in ihrer Nähe zu sein. Jeden Tag fährt sie mit dem Zug nach London, um Ihrer Vermieterin vorzugaukeln, sie hätte noch immer einen Job. Jeden Tag lässt Rachel ihre Gedanken schweifen und beobachtet vom Zug aus die Welt da draußen. Ein Ehepaar, das in einem Haus an der Bahnstrecke wohnt, hat Rachels Interesse geweckt, und sie erträumt sich für die beiden eine Phantasiewelt, gibt ihnen Namen und malt sich das perfekte Leben für sie aus. Sie nennt die beiden „Jess“ und „Jason“.
Nebenbei erfahren wir, dass Rachel selbst in dieser Wohngegend gelebt hat. Zusammen mit Tom, ihrem Ex-Mann, der inzwischen neu verheiratet ist. Anna ist die neue Frau an seiner Seite, und diese ist Rachel natürlich ein Dorn im Auge. Diese Missgunst beruht übrigens auf Gegenseitigkeit. Anna hasst Rachel, und Rachel lässt es sich auch nicht nehmen, ihren Ex-Mann mit Telefonanrufen zu terrorisieren – oder plötzlich im Garten aufzutauchen. (Note to self: Vielleicht sollte ich den Absatz oben korrigieren, als ich schrieb, Rachel sei keine Stalkerin…)
Mit ihrem eigenen Leben unzufrieden verbringt Rachel ihre Bahnfahrten weiter damit, sich das Leben ihres Traumpaares Jess und Jason vorzustellen. Dort ist alles perfekt. Ein Traumpaar, dass sich liebt, vertraut und bis an ihr Lebensende happily ever after zusammen sein wird. Eines Tages jedoch beobachtet Rachel ihre Jess auf der Terrasse des Hauses mit einem fremden Mann. Sie küssen sich. Rachel ist entsetzt und geht in ihrem Kopf sämtliche Szenarien durch, die es rechtfertigen würden, warum die perfekte Jess einen Rachel unbekannten Mann küssen würde. Das durfte nicht sein! Rachel reflektiert sogleich das Scheitern ihrer Ehe, und man erfährt mehr aus ihrer Vergangenheit. Überhaupt springt die Geschichte hin und wieder von der Gegenwart in die Vergangenheit.
Irgendwann erfährt Rachel aus den Medien, dass Jess, die im wahren Leben Megan heißt, verschwunden ist. Rachel ist entsetzt und beschließt, ihre Beobachtungen über die Geschehnisse im Garten, der Polizei und dem verstörten Ehemann (Scott, nicht Jason) mitzuteilen. Rachels Glaubwürdigkeit ist natürlich mehr als fragwürdig, was sie plötzlich dem Leser / Hörer etwas sympathischer erscheinen lässt. Man merkt, dass sie das Herz auf dem rechten Fleck trägt und letztendlich nur eine verlassene, einsame Frau ist.
Die Perspektive der Geschichte ändert sich. Wir lernen zwischendurch Anna kennen, die „Neue“ von Rachels Ex, die uns ihre Sichtweise der Dinge erzählt. Anna ist natürlich das krasse Gegenteil von Rachel. Hübsch, schlank und mit einem kleinen Baby lebt sie ihr eigentlich schönes Leben, welches jedoch permanent von dieser widerlichen Rachel gestört wird! Und Tom, ihr Mann, beschwichtigt immer wieder. Das muss aufhören! Rachel ist eine Gefahr für alle!
Megan (Jess) erzählt ebenfalls aus ihrem wunderbaren Leben mit Scott – oder ist es gar nicht so wunderbar? Schließlich hat sie einen anderen Mann geküsst. Wer war es? Und wohin ist Megan in jener Nacht verschwunden?
Fragen über Fragen, die auch nicht aufhören, als Megans Leiche im Wald gefunden wird. Rachel beginnt die Suche nach dem Täter.
Mehr erzähle ich nicht…
Vielleicht nur noch soviel: Die Geschichte ist einfach geschrieben, jeweils in der ersten Person der erzählenden Figur. Das ist keinesfalls verwirrend, es gibt dem Ganzen eine besondere Würze und den Charakteren Leben und Tiefe. Hauptakteurin bleibt Rachel, die sich in Mutmaßungen, Verdächtigungen und selbst in Widersprüche verstrickt. Die anderen Personen sind gut getroffen. Man liebt, man hasst, man leidet, man ist angewidert.
Wer ist der Täter? Der gehörnte Ehemann Scott? Oder der überaus verständnisvolle Psychologe, bei dem Megan in Behandlung war? Oder am Ende vielleicht Rachel selbst, die in der besagten Nacht einen Filmriss hatte? Oder war es der geheimnisvolle Rothaarige? Und, jetzt mal ehrlich, ist der Mörder nicht immer der Gärtner?
Viel Spaß beim Schmökern!